Mit der Studiokamera auf Fotopirsch

Mit der Grossformatkamera unterwegs

 

 

Studiokameras heissen so, weil man sie im Studio benutzt (und auch da lassen sollte > Stichwort Bandscheibe)…aber eben…In Folge einer mangelnden Alternative in Form einer eleganten und äusserst praktischen “Linhof Master Technika”, “Nagaoka”, “Tachihara” , “Shen Hao” oder ähnliche portable Schmuckstücke aus Bavaria oder Fernost muss die alte Linhof Kardan Color 45S “dran glauben” ; eine Grossformatkamera auf optischer Bank. Zugegeben : es gibt handlichere Kameras um auf Fotopirsch zu gehen…aber dassoll ja nicht das Thema sein 🙂

 

 

 

 

Optische Bank ?

 

 

Kurz erklärt : eine optische Bank ist ein Schienensystem, auf dem optische Elemente wie Linsen, Blenden etc. mechanisch verstellt werden können um , im Falle der Grossformatkamera, Linien zu begradigen , perspektivische Einstellungen zu manipulieren und / oder selektive Schärfebenen zu erzeugen. (Keine Angst, ich will Sie nicht mit Physik langweilen…)

 

 

 

 

“Wer hat`s erfunden ?” Ein Österreicher namens Scheimpflug

 

 

Theodor Scheimpflug studierte Maschinenbau und Photogrammetrie an der Technischen Hochschule in Wien. Im Jahre 1901 machte er eine grössere Erbschaft und forschte und experimentierte von nun an intensiv . Er fotografierte Landschaften (Luftaufnahmen) von Ballon oder Drachen. Sein 1906 entwickeltes und patentiertes Gerät erlaubte es , Bilder zu entzerren und korrekt darzustellen. Ohne seine Erkenntnis, das Objektebene, Objektivebene und Film(Sensor)ebene sich an einer Schnittkante treffen müssen, um korrekte Abbildungen zu erstellen wäre die Fotografie wie wir sie heute kennen nicht denkbar. Die “Scheimpflugsche Regel” war geboren.

 

 

 

 

Wer hier an dieser Stelle einen detaillierten Beschrieb der Wirkungsweise…und möglicherweise auch noch die Auflösung mathematischer Formeln aus dem Optik-Fachbuch erwartet muss ich leider enttäuschen…weil : das 1. kompliziert ist…und 2. keinen Spass macht 🙂   Ganz ohne Physik geht’s leider auch nicht….obwohl wir ja eigentlich bloss ein paar Bilder  schiessen wollen…

 

 

 

 

 

 

SWISS MADE Präzision : hier stellvertretend für technische Kameras auf optischer Bank :die “SINAR P” (1970). Studio/Fachkamera – typische Teile sind : #1 Objektivebene(Frontstandarte) ; #2 Filmebene mit Mattscheibe (Rückstandarte) , #3 Balgen,längenverstellbar , #4 optische Bank, mit mech. Verstellbarkeit der Komponenten in alle Richtungen , #5, Objektiv, mit dem SINAR-typischen Hinterlinsen-Verschluss (andere Hersteller verwenden Linsen mit integr. Zentralverschluss) Bild:Wikipedia 

 

 

Dem “Bankgeheimnis” auf der Spur 🙂

 

 

Es liegt auf der Hand, dass solche Kameras, damals wie Heute, vorwiegend von professionellen Werbe- und Architekturfotografen benutzt werden. Sie haben richtig gelesen : auch Heute noch werden solche Kameras benutzt, weil es schlicht und einfach nichts besseres gibt. Oftmals sogar noch mit Filmmaterial. Wo möglich kommen jedoch sogenannte Digital-Backs zum Einsatz. Wer mehr über neue technische Grossformatkameras erfahren will : auf den Websites der Münchner Kameramanufaktur Linhof , oder der Fa. SINAR gibts mehr Infos.

 

 

 

 

Im Nahbereich und bei Architekturaufnahmen liegen die grossen Vorteile der optischen Bank. Und Dank Herrn Scheimpflug konnte das “Bankgeheimnis” gelüftet werden 🙂

 

 

 

 

 

 

Knorr-Werbung der 60/70ziger Jahre : Im Nahbereich ist das Problem der Schärfentiefe besonders schwerwiegend, weil sie sich hier stark verringert. Durch Verschwenkung der Standarten konnte die Tiefenschärfe über das gesamte Bild erzielt werden. (Quelle: Verlag Grossbildtechnik, München)

 

 

 

 

Kamera-Einstellungen für die obige Aufnahme nach Scheimpflug. Film-Ebene , Objektiv-Ebene und Objekt-Ebene treffen sich im Schnittpunkt.

 

 

Foto und Grafik aus : “Die Hohe Schule der Kameraverstellung” ; Verlag Grossbildtechnik GmbH,München . Download hier ( 24 Seiten-PdF , 7,3 Mb)

 

 

 

 

 


 

 

 


 

 

 


 

 

“An die Standarten ; Fertig; Los ” 🙂

 

 

So weit so gut mit der Theorie. Meine Web-Beiträge richten sich in erster Linie an den interessierten Laien; oder an den Foto-Neuling. Darum wird manchmal auch etwas ausgeholt, um den manchmal etwas komplexen Stoff etwas “verdauungsfreundlicher” zu gestalten. Quasi “de-mystifizieren” versuchen (mit Betonung auf “Versuchen”…)

 

 

 

 

Mit dem sprichwörtlichen “Sack und Pack” (Stativ, Bankrohr, Standarten, Balgen, Objektiv, Dunkeltuch, Filmhalter, Belichtungsmesser….) ging`s Mitte Oktober, bei herrlichem Wetter ganz spontan los nach 8314 Kyburg. Nicht nur das Museum Schloss Kyburg ist sehenswert, nein auch die alten Riegelhäuser des kleinen sympathischen Dörfchens laden zum Fotografieren ein ! Schnell ist ein Motiv gefunden und erste Vorbereitungen getroffen. Apropos “Schnell” : schnell passiert hier gar nichts 🙂 wer schnell will soll das Handy nehmen oder die Digitale. Das hier hat eine andere Dimension …. Grossformatfotografie mit optischer Bank will zelebriert werden !

 

 

 

 

 

 

Macht sichtlich Laune : Kurt`s erste Versuche mit der Grossformatkamera

 

 

Social Media” ? Und wie ! 🙂

 

 

 

 

Es kann (und wird) passieren, dass Sie von wildfremden Menschen angesprochen werden, wenn sie mit solchem “Geschirr” hantieren. Interessant wie so eine Kamera als “sozialer Eisbrecher” fungieren kann. Menschen mögen analog nun einmal mehr als digital. Das freut mich jeweils sehr. Bemerkungen wie z.B. “wow, ist die aber alt” und ähnliche stecke ich natürlich souverän weg… 🙂 ( erinnern mich “auf dramatische Art und Weise” an mein eigenes “Baujahr”….die Kamera ist noch ein paar Jahre jünger als ich…..)

 

 

 

 

Vorbereitungen : Komposition und Fokus

 

 

Wie bereits erwähnt : “schnell ein Foto schiessen” läuft nicht (ausser vielleicht bei sehr routinierten Fotografen). Für Hobbyaner wie mich beginnt das “Abenteuer optische Bank” bereits mit den Vorbereitungen. Das Objekt steht fest : mein Buddy und “1.Assistent” Kurt und ich wollen dieses fantastische Riegelhaus fotografieren. Um den genauen Kamerastandort auszuloten ist diese App äusserst hilfreich ! Jetzt muss erstmal das Stativ aufgestellt werden .

 

 

 

 

 

 

So. Die Kamera steht am richtigen Ort und die Standarten wurden bereits mit der Wasserwaage ins Lot gesetzt. Ein provisorische Komposition wurde bereits vorgenommen. Änderungen diesbezüglich könnten mit einer seitlichen Verschiebung der Standarten vorgenommen werden. Um die berüchtigten stürzenden senkrechten Linien zu vermeiden muss die Frontstandarte noch nach Oben verschoben werden.

 

 

 

 

Ein Dunkeltuch ist vor allem an sonnigen Tagen zwingend nötig, um überhaupt etwas auf der Mattscheibe zu erkennen . Um die finalen Einstellungen nochmals zu kontrollieren muss am Objektiv die grösstmögliche Blendeneinstellung vorgenommen werden, damit das Bild im Sucher einigermassen hell erscheint. (bei diesem Objektiv ist das Blende 5.6)

 

 

Aristoteles, Da Vinci, Goethe….

 

 

Das Phänomen der “Camera Obscura” haben sich bereits diese weisen Männer zu Nutze gemacht, um Abbildungen auf Papier anzufertigen ; lange bevor die erste Fotografie dann im Jahre 1826 angefertigt wurde.

 

 

 

 

 

 

Der Camera Obscura Effekt : das Motiv im Sucher (resp. auf der Mattscheibe) steht Kopf und ist Seitenverkehrt. Das kann anfangs etwas irritierend sein. Man beachte auch den Grössenvergleich von 4×5 inches und Kleinbildnegativ.. Lesenswert : Camera Obscura auf Wikipedia

 

 

Belichtungszeit…aber Wie ? 🙂

 

 

Was auf den ersten Blick als “sowieso klar und einfach” erscheinen mag kann den Fotografen schon mal vor Probleme stellen. Die “korrekte” Belichtungszeit bei grossformatigen Negativen zu eruieren ist eine etwas diffizilere Angelegenheit als beim Kleinbildformat. Moderne Film- oder Digitalkameras haben sowieso Automatikprogramme, welche für den Fotografen (auch) die Belichtungszeit (oder Verschlusszeit) berechnen. In der Regel ist das ein Mittelwert vom im Vergleich recht komprimierten Bildfeld. Doch auf unserem Negativ hat es PLATZ, da ist nichts komprimiert….hier gibt es definierbare Zonen mit abgeschattetem Gebüsch, ein mittelgrauer Boden… eine helle und eine mittelhelle Fassade und ein sehr heller Himmel. Diese Zonen müssen mit einem Spotmeter (1-Grad-Messfeld) angemessen werden, um im Idealfall einen Mittelwert zu berechnen. Die “korrekte” Belichtungszeit ergibt sich aus den Vorstellungen des Fotografen und der Bildwirkung, welche er erzielen will . Welche Zonen im Bild (und für die Bildwirkung!) relevant sind entscheidet er alleine und nimmt dementsprechend die Einstellung am Verschluss des Objektives vor. (siehe auch “Das Zonensystem” von Ansel Adams, Link )

 

 

 

 

 

 

Scan vom 4×5-Negativ : hier wurde klar auf die schattigen Stellen belichtet. Mit dem Spotbelichtungsmesser konnten die einzelnen relevanten Zonen angemessen und beurteilt werden. Der Kontrastumfang der Szene war an diesem Nachmittag ziemlich hoch; die helle Fassade links im Bild kurz vor dem “ausfressen” der Lichter. Film : Fomapan 100ISO , entwickelt mit KODAK HC-110 (1+31) bei 20 C für 6 Minuten. Beim digitalisieren des Negativs wurde die Tonwertkurve nicht verändert; es wurde weder geschärft noch anderweitige Veränderungen (ausser Grössenreduzierung) vorgenommen.

 

 

“Zu den Wurzeln der Fotografie”…und wieder zurück

 

 

Natürlich gibt es im 21.Jahrhundert Kameras, welche den Einsatz von Grossformatkameras weitgehend überflüssig machen können. Das Problem der Schärfentiefe im Nahbereich wurde digital gelöst, indem mittels sog. Focus Stacking software-mässig die Schärfe “zurechtgemauschelt” wird.

 

 

 

 

Sogenannte Shift-Objektive sind in der Lage, den vorderen Teil der Linse anzuheben um eine pseudo-perspektivische Veränderung vorzunehmen. Das bedeutet : keine stürzenden Linien mehr bei Architekturaufnahmen.

 

 

 

 

Im Zusammenspiel mit High-End-Objektiven , Software, schnellen Computern , modernster Mittelformat-Kameratechnik und digitalen Rückteilen ist der Fotoprofi in der Lage , sämtliche fotografischen Aufgaben zu lösen, garantiert !

 

 

 

 

Die Grossformatkamera kann Vieles , wie auch hier in diesem Download nachzulesen ist…PLUS, sie hat Charme, und kann Passanten zu einem Lächeln verführen oder ein Gespräch anzetteln. Mit ihr wurde schon vor 130 Jahren fotografiert. Auch heute noch lassen sich Glasplatten mit Kollodion und Silbernitrat beschichten…oder mit beschichteten Blechplatten (wie damals im Hinterzimmer des Western Saloons) einzigartige Positive anfertigen. Das ist für mich Foto-Faszination pur und durch nichts zu ersetzen. (Versuchen Sie mal, eine beschichtete 4×5 Glasplatte in eine 70`000.- sfr. “Phase One” zu schieben 🙂

 

 

 

 

An dieser Stelle möchte ich Ansel Adams, einen der ganz grossen Fotografen des vergangenen Jahrhunderts zitieren :

 

 

 

 

I don`t take a picture , I make a picture

A.Adams

 

 

Mit einem Dankeschön an Buddy und 1.Assistant Kurt Weilenmann endet mein Blogbeitrag; viel Freude beim “Bilder machen” !